Im Rahmen der Residenz Ukrainian Feminist Women Artists der Marthin Roth Initiative verbrachte die ukrainische Künstlerin, Fotografin und Dokumentarfilmerin Dzvinka Pinchuk mehrere Wochen in der Nudelfabrik in Zeitz. In ihrer künstlerischen Praxis verbindet sie dokumentarische und konzeptuelle Ansätze, um die Auswirkungen von Krieg, Trauma und Mutterschaft sichtbar zu machen. Im Interview spricht sie über ihre persönliche Entwicklung während der Residenz, das Spannungsfeld zwischen Fotojournalismus und autobiografischer Arbeit sowie die überraschende Inspiration, die sie in der kleinen Stadt Zeitz fand. Wir haben sie über ihre Zeit in der Nudelfabrik interviewt.
Hallo Dvzinka, kannst du ein wenig über dich, deinen Hintergrund und deine künstlerische Praxis erzählen?
Ich bin ukrainische Fotografin, Konzeptkünstlerin, Dokumentarfilmerin und Produzentin. Dabei bewege ich mich an der Schnittstelle von digitaler und analoger Fotografie, Text, Video und Collage. Und ich jongliere mit all dem – bis mir sozusagen irgendwann ein Ball herunterfällt.
Geboren wurde ich 1991 – in jenem wunderbaren, aber auch etwas chaotischen Jahr – und habe den Großteil meines Lebens in der Ukraine verbracht. Vor dem Beginn des Angriffskriegs habe ich im Verlagswesen gearbeitet, Belletristik übersetzt, gefilmt, ein wenig für die Medien geschrieben – und dabei gleichzeitig meine Tochter alleine großgezogen. Seit 2022 ist alles anders: Ich finde mich meist im Bereich der Kriegsfotografie wieder – eine Realität, die manchmal höllisch ist, aber wichtig.
Heute konzentriert sich meine künstlerische Praxis auf Themen wie posttraumatische Erfahrungen, Alltagsleben, soziale Dynamiken – und darauf, wie der Krieg unsere Beziehungen verändert: zu uns selbst, zu anderen, zur Zeit. Gleichzeitig erziehe ich immer noch eine Teenagerin (was manchmal schwieriger ist, als in einer Kriegszone zu arbeiten) und drehe einen Dokumentarfilm über Mutterschaft im Krieg.
Außerdem arbeite ich mit verschiedenen Medien – unter anderem als Story Producerin für die New York Times und als Fotografin für Der Standard, die WOZ, La Croix, Les Jours, NZZ und andere. Trotz allem erzähle ich also weiterhin Geschichten – vor und hinter der Kamera.

Was hat dich motiviert, dich für die Residency in Zeitz zu bewerben?
Ich wollte mich erinnern, wie es sich anfühlt, Künstlerin zu sein. Ich sehnte mich nach Raum und Zeit für eigene Gedanken und Reflexionen – inmitten dieses Alltagszyklus im Krieg: Arbeit, Recherchereisen, das Miterleben der Geschichten anderer. Ich erinnere mich, wie ich die Worte las: „Residency for Ukrainian Feminist Women Artists by the Martin Roth Foundation: Raum für Reflexion, Austausch und Neustart“, und irgendetwas in mir regte sich. Aber ich hätte niemals erwartet, was diese Residency mir letztlich geben würde. Sie hat all meine Erwartungen übertroffen!
Inwiefern hat die Nudelfabrik Zeitz als Ort deine künstlerische Praxis beeinflusst?
Ich glaube nicht, dass der Ort den Inhalt des Projekts direkt beeinflusst hat – aber sehr wohl meinen Geisteszustand und die Art, wie ich daran gearbeitet habe. Die weiten Hallen der Nudelfabrik Zeitz vermittelten ein starkes Gefühl von Freiheit – körperlich, aber auch geistig. Gedanken konnten sich hier frei bewegen, Ideen fließen. Die industrielle Atmosphäre der Nudelfabrik wirkte wie ein produktiver Resonanzraum, der mich von selbst in einen Arbeitsmodus versetzte. Diese Umgebung verlangsamte mein Tempo, förderte Reflexion – und eröffnete mir neue Perspektiven auf Mutterschaft im Krieg.

Wie hast du die Atmosphäre der Stadt Zeitz als Arbeitsumgebung erlebt?
Es war eine seltsame Erfahrung. Das liegt daran, dass ich – aus irgendeinem Grund – anfangs fest davon überzeugt war, dass die Residency in Berlin stattfinden würde. Ich stellte mir vor, wie ich in einer belebten Großstadt ankomme, umgeben vom Lärm und den Menschenmengen, von Tauben und Straßenbahnen.
Und ich bereitete mich innerlich auf das vor, was mir seit Februar 2022 bei jeder Reise ins Ausland passiert: Es ist, als ob etwas in mir zerbricht. Ich spüre, wie meine Kraft schwindet – Stück für Stück – und ich zu nichts mehr fähig bin. Die inneren und äußeren Mosaikstücke, die der Krieg gezwungen hat, zusammenzuhalten, fallen auseinander – meist schon, sobald ich am Bahnsteig in Chełm stehe. Diese Feier des Lebens anderer frustriert mich. Es erstaunt mich immer wieder, dass ein so sorgloses Leben nur 800 oder 900 Kilometer von der Frontlinie entfernt möglich ist.
Zeitz war ein Grenzerlebnis – im wahrsten Sinne. Ich konnte dort nicht entspannen oder mich erholen, aber ich fand eine Art Gleichgewicht. Es war wie eine „Grenzstadt“: die Ruhe und Sicherheit einer Kleinstadt, ein Himmel, in dem Flugzeuge friedlich fliegen, das entfernte Rauschen des Flusses, das Zirpen der Grillen. Und gleichzeitig: zerstörte Häuser, verfallene Gebäude, leere Straßen bei Nacht – wie in einem postapokalyptischen Film. Es war eine Kriegsatmosphäre, aber ohne Krieg. Nur ein imaginierter Krieg. Die Stadt wirkte wie eine Filmszene – vielleicht aus Slowjansk oder Isjum. Aber hier war keine Front – was ein seltsames, fast paradoxes Gefühl auslöste: Ich fühlte mich wie zu Hause, aber zum ersten Mal sicher.
Ich würde nicht sagen, dass ich mich dort erholt habe – aber ich habe eine Art Balance gefunden. Mein Körper hat sich nicht völlig entspannt, aber auch nicht aufgelöst. Ich konnte einen klaren Kopf bewahren, hatte Ruhe zum Nachdenken – und zum Arbeiten an meinem Projekt.

An welchem Projekt hast du während der Residency in Zeitz gearbeitet?
Das ist eigentlich eine interessante Geschichte. Als ich mich für die Residency bewarb, hatte ich bereits eine klare, strukturierte Idee: ein Projekt über Mutterschaft im Krieg, vor allem basierend auf den Erfahrungen anderer Frauen. Ich näherte mich dem Thema mit einem fotojournalistischen Blick – konzentriert auf Geschichten, die mir vertraut erschienen, aber nicht meine eigenen waren.
Doch während der Projektpräsentation in Zeitz stellte mir die Kuratorin eine Frage, die alles veränderte: „Wo bist du in all dem? Ich möchte mehr über deine persönliche Erfahrung hören.“
Das war ein Wendepunkt. Ich merkte plötzlich, dass ich mich hinter der Kamera versteckt hatte – eine Rolle, die mir vertraut war, wie eine Korrespondentin mit sicherem Abstand. Ich hatte gezögert, meine eigene Geschichte zu erzählen – sprach lieber durch die Stimmen anderer. Aber diese Frage brachte mich dazu, meine Position und meinen künstlerischen Ansatz neu zu überdenken.
Das Projekt nahm daraufhin eine neue Richtung. Ich begann, das Thema Mutterschaft im Krieg durch mein eigenes Leben zu betrachten – mit all den Ängsten, Zweifeln, auch Schuldgefühlen.
Die Residency – und das unterstützende Umfeld – gaben mir zum ersten Mal das Gefühl, dass ich nicht nur darf, sondern soll nach innen blicken und ehrlich aus meiner Perspektive sprechen. Das war unglaublich wertvoll für mich.

Gab es bestimmte Orte, Menschen oder Geschichten in Zeitz, die dich inspiriert haben?
Eines Tages, beim Umherstreifen in der Stadt, entdeckte ich zufällig ein Museum für Kinderwagen. Ich erfuhr, dass genau hier – in dieser Stadt – diese essenziellen Gegenstände für Kinder zum ersten Mal produziert wurden. Ein Detail darin hat mich tief berührt:
Ein großer Saal voller leerer Kinderwagen – dicht an dicht, als würden sie in einer Schlange auf etwas warten. Alle unterschiedlich, und doch alle leer – ohne die Kinder, für die sie einst gemacht wurden.
In diesem Moment fühlte ich mich wie einer dieser Wagen. Ich bin in einem Zustand des Wartens – funktioniere, aber nicht so, wie ich es eigentlich will. Ich glaube, viele Menschen, die in einem Land leben, in dem Krieg herrscht, empfinden ähnlich. Dieses Gefühl von Leere und Warten hat die Stimmung meines Projekts stark beeinflusst.
Hast du während der Residency neue Medien, Formate oder Themen ausprobiert?
Wir alle hatten die außergewöhnliche Möglichkeit, uns in einem ganz anderen künstlerischen Format zu versuchen. Kateryna Krokha, eine der Künstlerinnen im Programm, hat für ihr Projekt eine Art „Worttherapie-Übung“ mit uns gemacht. Sie nahm ihren eigenen Text, formte ihn in Ton, ritzte jedes einzelne Wort sorgfältig ein – und zerschlug dann alles. Sie überreichte uns diese Bruchstücke – und jede konnte daraus etwas völlig Neues erschaffen.
Diese Praxis war unglaublich haptisch, kraftvoll – fast magisch für mich. Ich hatte lange keine Gedichte mehr geschrieben. Doch aus diesen fremden, zerbrochenen Worten entstand plötzlich etwas wie das hier:
no memory no energy no rage
here
strangers already touched me
backed my eyes
when each stood there watching
how I rejoiced
as if
it was magic without spark
warm linear light
and
silent birds like souvenirs
for me